Naomi Hunter hat eine seltsame Charakterentwicklung durchgemacht, denn im ersten Teil von Metal Gear Solid war sie erstmal nichts weiter als ein leidlich animiertes Artwork mit einer Riesenladung von Schuldkomplexen und einer Familiengeschichte, die, ganz den Regeln der Reihe entsprechend, völlig kaputt war. Ihre narrative Hauptaufgabe war es, dem Tod von Frank Jaeger mehr Tragik zu verleihen und darüber hinaus im Finale stammtischphilosophische Platitüden über die Endlichkeit des Lebens zu präsentieren.

Sie guckt nur so betroffen, weil sie nicht der Charakter ist, sondern ihr Krebs.

Dann hörten wir zwei Teile lang gar nichts von ihr und trafen sie in MGS 4 endlich persönlich an. Nun musste sie plötzlich innerhalb kürzester Zeit als jemand etabliert werden, der dem Spieler etwas bedeutet, und Boy Howdy, was wurde nicht alles versucht. Zunächst war da der Fanservice, denn Naomi sah nun aus wie Monica Bellucci und hatte eine fiese Abneigung dagegen, sich ihr Hemd ordentlich zuzuknöpfen.

Dann wurde sie binnen kürzester Zeit zu einem tragenden Charakter in der Story (maßgeblich verantwortlich für die omnipräsente Nanomaschinen-Ausrede), zu einer warmherzigen Mutterfigur (Kochabend mit Sunny), durfte als sexuelles Anhängsel dem liebenswerten Loser Otacon ans Herz wachsen und war ganz insgesamt einfach ein völlig anderer Charakter – ihre vorherige Entwicklung wurde bestenfalls grob impliziert, doch den Rest musste man sich zusammenreimen. Sie hätte, kurzum, auch einfach ein neuer Charakter sein können, denn das war sie de facto eh.

Ach ja, und sie hatte Krebs, was natürlich immer der emotionale Joker ist, wenn es darum geht, mitleidige Verbindung zwischen einem Charakter und dem Publikum aufzubauen. Das wurde dann auch zum Vehikel für ihren Selbstmord, denn spontan entschied sich Naomi, die Nanomaschinen (seufz), die ihren Krebs unterdrückten, zu zerstören, weil... tja, warum eigentlich? Irgendwie gab sie sich die Schuld für die Entstehung des Bösewichts Vamp, den sie aber nicht nur nicht erschaffen hatte, sondern an dessen Zerstörung sie sogar maßgeblich mitgewirkt hatte.

Auch ansonsten bedeutete ihr Opfer nichts – sie erkaufte den Helden keine Zeit, sie wäre nicht zum Ballast geworden, nüscht. Es gab also wirklich keinen guten Grund für ihren Tod, außer den armen Schweinen Otacon und Sunny noch ein Trauma und eine Bürde mehr aufzuhalsen und in die Story einen weiteren Heulmoment einzufügen. Naomi war insgesamt ein transparenter und konstruierter Versuch, auf einfachem Wege mehr Drama zu erzeugen – anders ausgedrückt, man hatte sie auf biegen und brechen zu einem neuen Charakter geformt, nur, damit sie wieder diesselbe Funktion wie im ersten Teil erfüllen konnte: Den anderen Figuren emotional mehr Gewicht zu geben. Top notch.

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