Virtual Reality schafft es dieses Jahr endlich in private Haushalte - allerdings nicht zum ersten Mal: Schon vor 20 Jahren träumten wir von virtuellen Welten, die in Zukunft zu unserem Alltag gehören sollten. Damals ist der Traum nicht in Erfüllung gegangen, doch der VR-Hype der 90er Jahre schenkte uns einige wunderbar kuriose popkulturelle Relikte.
Wenn wir in 20 Jahren auf das Videospiel-Jahr 2016 zurückblicken, werden wir es aller Wahrscheinlichkeit nach als das Jahr sehen, in dem Virtual Reality endlich massentauglich wurde - zumindest, wenn wir und vor allem die Macher der verschiedenen aktuellen VR-Systeme Glück haben. Denn es ist nicht das erste Mal, dass wir dachten, der Traum von der so überzeugenden wie erschwinglichen virtuellen Realität würde Wirklichkeit, und das letzte Mal ist rückblickend etwas peinlich für viele der Beteiligten.
In den 90ern gab es schon einmal einen Hype um VR: In den Spielhallen wurden VR-Geräte aufgestellt, die Heimkonsolen-Giganten der Zeit - Sega und Nintendo - versuchten sich an VR-Konsolen und die Popkultur war voll von Geschichten, die mal mehr, meistens weniger gelungene Visionen unserer virtuellen Zukunft entwarfen.
Heute kann man kaum glauben, dass wir die primitiven VR-Welten der 90er-Jahre mal realistisch fanden, die Zukunftsvisionen für plausibel hielten. Aber es lohnt sich, einmal darauf zurückzublicken, denn wer weiß: Vielleicht werden wir die heutigen VR-Systeme mal mit ähnlicher Verwirrung betrachten. Auf den folgenden Seiten möchte ich daher einen Blick auf die wichtigsten VR-Systeme der 90er werfen und darauf, wie wir uns damals unsere virtuelle Zukunft vorgestellt haben.
Vor Oculus Rift und Co: So kurios war der Virtual Reality-Hype der 90er
Virtuelle Realität in der Spielhalle: Virtuality
Einige der frühesten VR-Systeme für den Massenmarkt wurden von der britischen Firma Virtuality Group hergestellt. Sie gehörten noch zu den erfolgreicheren VR-Systemen der Dekade, was, wie wir später sehen werden, nicht viel heißt. Die Systeme waren mit bis zu $75.000 zu teuer für den Heimgebrauch, doch von 1991 an waren sie für eine Weile in (vor allem britischen) Arcades zu finden. Dort stießen sie, obwohl die Nutzung teurer war als die anderer Automaten, durchaus auf positive Resonanz bei Publikum und Kritikern und waren wohl einer der Auslöser für den damaligen Hype um VR. Sogar Sega und Nintendo wollten mit Virtuality zusammen arbeiten. Der Erfolg blieb jedoch von kurzer Dauer: Software für die Geräte verkaufte sich schlecht und 1997 meldete die Virtuality Group Insolvenz an.
Vorher waren zwei Generationen der Geräte erschienen, die es jeweils in zwei Ausführungen gab: Zusätzlich zu der VR-Brille standen Spieler bei einer Version in einer Vorrichtung, die aussah wie ein futuristischer Rollator, bei der anderen saßen sie in einer Art Cockpit. Es ließen sich sogar mehrere Geräte miteinander verbinden, sodass Multiplayer-Games möglich waren.
Vor Oculus Rift & Co: So kurios war der Virtual Reality-Hype der 90er
(Zum Glück?) nie veröffentlicht: Sega-VR
Sega war der erste der großen Konsolen-Hersteller, der ein Heim-VR-System ankündigte. Das Sega-VR-Headset wurde 1991 angekündigt und sollte sowohl für Arcades als auch als Add-On für das Mega Drive erscheinen. Aber nur die Arcade-Version wurde tatsächlich veröffentlicht: 1994 entschied Sega sich gegen die Veröffentlichung der Version für die Heimkonsole, angeblich - falls ihr gerade einen Schluck Kaffee genommen hat, schluckt erstmal in Ruhe runter und lest dann weiter -, weil der VR-Effekt zu realistisch war. So befürchtete Sega, dass die Immersion der Spieler so groß gewesen wäre, dass sie geglaubt hätten, sich physisch in der virtuellen Welt bewegen zu können - die Verletzungsgefahr war Sega zu hoch.
Bevor Sega sich gegen die Veröffentlichung entschied, wurde Sega-VR allerdings einige Male vorgestellt, unter anderem im Rahmen der Consumer Electronics Show 1993. Von dieser Präsentation gibt es Videomaterial, was schön ist für jeden, der Interesse an Videospielgeschichte hat - oder an Retro-Trash: Wenn ich später mal meinen Kindern die 90er-Jahre erklären soll, werde ich ihnen dieses Video zeigen. Jedes Detail stimmt nostalgisch (gleich, nachdem man aufgehört hat zu lachen): Das knallbunte, hochgekrempelte Hemd des Moderators, seine Art der Präsentation - Prä-Steve-Jobs, eher von der Schule “Wrestlemania“ -, der Videoteil, in dem sich euphorische Testimonials über die futuristische Technologie (von ganz bestimmt echten Gamern) mit den schönsten Bildschirmschonern der Computer-Geschichte abwechseln.
Mit Sicherheit war damals so mancher, der an Segas VR-Technologie mitgearbeitet hatte, enttäuscht über die abgesagte Veröffentlichung der Mega Drive-Version. Als dann allerdings ein paar Jahre später Nintendo seine Version von VR vorlegte, dürften die Sega-Entwickler insgeheim die Becker-Faust gemacht haben, weil ihnen einiges an Scham und Enttäuschung erspart blieb...
Vor Oculus Rift und Co: So kurios war der Virtual Reality-Hype der 90er
Gamer sehen rot: Nintendo Virtual Boy
Nintendo-Konsolen waren oft am Puls der Zeit, wenn sie ihrer Zeit nicht gar voraus waren (siehe die Motion-Controls der Wii). Und manchmal eben nicht (siehe das Gamepad der WiiU). Der Virtual Boy ist interessant, weil er irgendwie in beide Kategorien passt.
Der Virtual Boy war eine tragbare Konsole (“Handheld“ wäre unpassend), die aus einem Headset und einem Controller bestand. Er stellte Spiele in stereoskopischem 3D dar, allerdings war das Display nur mit roten LCDs ausgestattet, sodass ein ausschließlich rot-schwarzes Bild entstand.
Zu stereoskopischem 3D kehrte Nintendo später mit dem 3DS zurück, und auch Hybriden aus Handheld und Konsole interessieren Nintendo bis heute - in gewisser Weise war der Virtual Boy also zukunftsweisend. Das ist aber auch so ziemlich das einzige, was man zu seinen Gunsten sagen kann: Der Virtual Boy verkaufte sich schlechter als fast alle anderen Nintendo-Konsolen (außer dem 64DD) und die Produktion wurde nach weniger als einem Jahr eingestellt, bevor er überhaupt Europa erreichte. Nur 22 Spiele wurden insgesamt, auf Japan und Amerika verteilt, für den Virtual Boy entwickelt.
Vor Oculus Rift und Co: So kurios war der Virtual Reality-Hype der 90er
Angst und Euphorie: VR in den Medien
Es gab einige weitere VR-Systeme in den 90ern, darunter natürlich auch welche für den PC wie das VFX-1 oder das Cybermaxx. Bei keinem war die Technik wirklich ausgereift, keines überlebte wirklich lange. Dennoch zog der Hype größere Kreise als nur unter Gamern und Technik-Nerds: Im Kino waren virtuelle Realitäten so oft Thema wie nie zu vor (dazu gleich mehr), und auch im Fernsehen und den Zeitungen fand VR statt. Ein ABC-Fernsehbeitrag von 1991 zum Beispiel gibt einen Überblick, wie virtuelle Realitäten von damals aussahen (und wird erst ganz zum Schluss apokalyptisch).
Aber die etablierten Medien haben natürlich nicht nur Positives im VR-Trend gesehen. Die New York Times schrieb 1996 über die Eröffnung einer VR-Spielhalle und weigerte sich, die Technik ernstzunehmen. Ein NBC-Bericht, ebenfalls von 1996, warnte davor, dass Virtual Reality einen ähnlichen Effekt auf den Körper habe wie Alkohol (Er enthält außerdem eine bezaubernde Szene, in der ein Nachrichtensprecher im Auto moderiert, weil er darüber spekuliert, wie sich das Nutzen eines VR-Systems auf das Fahrvermögen auswirken könnte. Will er daran erinnern, wie Autofahren richtig aussehen soll? Und wie wirkt es sich auf das Fahrvermögen aus, während der Fahrt in eine auf dem Beifahrersitz platzierte Kamera zu sprechen?)
Games-Medien waren natürlich enthusiastischer. Die Virtuality-Systeme wurden unter anderem als “spaßiger und süchtig machender als alles, was ihr bisher in einer Spielhalle gesehen habt“ (InfoWorld, zitiert nach Kernel Mag) und „ein bedeutender Schritt in der Evolution von Gaming und Entertainment“ (ComputerWorld) bezeichnet. Auch über...spezielle Nutzungsmöglichkeiten von VR wurde spekuliert: 1993 schrieb das australische Games-Magazin Hyper über virtuellen Sex, wofür bald spezielle Technologie existieren werde. Echte und fiktionale Technologie dieser Art trägt übrigens den grandiosen Namen “Teledildonics“ (was auch der Name meiner Synthpop-Band ist). Auch eine Illustration dazu (ursprünglich aus dem Future Sex Magazine) konnte Hyper anbieten (via Kotaku):
Vor Oculus Rift und Co: So kurios war der Virtual Reality-Hype der 90er
VR durchdringt die kollektive Psyche: Virtuelle Realiäten in der Popkultur
Dass VR in den 90ern kein Nischenthema war, zeigten auch die Repräsentationen in der Popkultur. Neben den existierenden VR-Systemen selbst (in der Kult-Komödie Wayne’s World zum Beispiel waren Virtuality-Systeme zu sehen) waren es vor allem Visionen der Zukunft von VR, die die Popkultur, besonders das Kino der 90er prägten.
1999 setzte Matrix einen eindrucksvollen Schlussstrich unter die VR-besessene Dekade - ein gnadenlos überschätzter Film, aber immerhin keiner, bei dem man sich für die Beteiligten schämen muss. Von anderen Filmen aus der Zeit kann man das nicht behaupten. David Cronenbergs eXistenZ (ebenfalls 1999) ist wohl der beste VR-Film der 90er, allein schon, weil er Cronenbergs Darstellung von Elektronik als bizarre, biologische Organismen recht zeitlos ist und den Film nicht auf den ersten Blick in den 90ern verordnet. Von anderen VR-Filmen von damals kann man das nicht behaupten.
Meine liebste VR-Trash-Szene kommt aus einem anderen Keanu Reeves-Film: In Vernetzt - Johnny Mnemonic (1995), einer Verfilmung der gleichnamigen Kurzgeschichte von William Gibson, spielt Reeves eine Art wandelnden USB-Stick (einen Kurier, der Daten in seinem Hirn transportiert - bis zu 80GB!). In einer Szene muss er in einer VR-Version des Internets einen Computer “hacken“, was unter anderem das Lösen von Puzzles, das Öffnen virtueller Boxen und einen Moment umfasst, in dem Johnny seine Arme hebt und virtuelle Laserstrahlen(?) aus den Fingern schießt.
(Wer jetzt den ganzen Film gucken will, sei gewarnt: Der Rest ist ziemlich langweilig.)
Es gibt viele weitere Filme und einige Bücher aus den 90ern, über deren Darstellung von VR man sich teils ähnlich gut lustig machen kann (Der Rasenmähermann, Virtuosity, Enthüllung). Aber sie zeigen auch, was für ein großer Teil der damaligen kollektiven Psyche Virtual Reality war. Interessanterweise scheint VR heute mehr als damals ein Nischenthema zu sein, oder zumindest keine kollektive, auch den Mainstream und die Popkultur durchdringende Obsession wie in den 90ern. Vielleicht liegt das daran, dass virtuelle Welten, in Form des Internets, sozialen Netzwerken etc., heute ein so natürlicher Teil des täglichen Lebens sind, dass VR weniger zur Spekulation (und Sorge) anlässt als vielmehr wie der logische nächste Schritt erscheint.
Oder es will einfach noch niemand glauben - eben auch, weil wir das alles schonmal durch hatten -, dass VR diesmal tatsächlich hier ist, und vor allem: hier bleiben wird.